29. Mai 2021
Helmut Pokorny
Zeitfenster – meine Oma

Meine Oma. Alles gelebt. Alles gesagt.
Mathilde Wieshuber (1895-1980), geborene Loidl,
entstammte einem großen Gutshof, dem Eggertshof bei Freising.
Sie hat viel verloren. Ihren Bruder im 1. Weltkrieg für Kaiser und Vaterland, ihr Erbe 1923 bei der Inflation, ihren geliebten Mann Lampert in den allerletzten Kriegstagen am 29. April 1945.
Aber sie hat nie gejammert oder mit dem Schicksal gehadert. Fast immer war sie gut gelaunt, fleißig und gottergeben. Besitz war ihr fremd. Wozu auch. Eine Kittelschürze als tägliches Outfit genügte ihr. In der Tasche eine trockene Semmel als Notration. Zum Wohnen 2 kleine Zimmer im Haus meiner Mutter, einfache weiße Schleiflackmöbel für ihre sieben Sachen und als einziger Luxus ein Radio zur Unterhaltung. Kein Fernseher. Keine Bücher. Kein Telefon. Nur Tages- und Missionszeitung zur täglichen Erbauung und Lektüre. So genügsam, aber doch ein zufriedener Mensch. Genügend Rente, um uns 3 Enkelkindern immer ein gutes Extrageld zustecken zu können. Für Süßigkeiten, später zum Ausgehen. Oma und ich wohnten im ersten Stock. Tür an Tür. Manchmal, wenn ich als Teenager am Wochenende spät nachts nach Hause kam, fand ich sie schlafend am Küchentisch vor. Ganz selig. Gleichmäßig atmend und losgelöst von allem Irdischen, wie ihr heruntergeklapptes Gebissteil. Das war meine Großmutter.
Sie gehört zu den wenigen Menschen, wo ich das Gefühl habe, alles gesagt und getan zu haben.
1978 fiel sie in der Gartenstraße vom Fahrrad. Davon hat sie sich nie mehr ganz erholt.
Es wurde langsam Nacht in ihrem Kopf.